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Lieber Leser, 

diese digitale Studienausgabe von Fichtes Wissensschaftslehr nova methodo hat eine Vorgeschichte, von der der Benutzer vielleicht noch Spuren bemerkt.

Zunächst hatte ich auf meinem Blog Fichtiana die dogmatische Kehrtwendung untersucht, die Fichte aus Anlass des pp. Atheismusstreits und namentlich des Offenen Briefs von Heinrich Jacobi unternommen hat, dann habe ich die Anlage dazu in seinen früheren Darstellungen der Wissenschaftslehre aufzusuchen begonnen. Und zwar habe ich "Stellen" herausgegriffen und mit verbindenden Kommentaren versehen. 


Schließlich habe ich mich auf die WL nova methodo konzentriert, die mir immer mehr als die letzte authentische, nämlich transzendentalphilosophische Darstellung der Wissenschaftslehre erscheint. Die "Stellen" waren schließlich so eng gedrängt, dass ich drauf und dran war, den gesamten Wortlaut wiederzugeben 
 was eine nützliche Sache wäre, denn im Internet ist dieser  wichtige  wichtigste!  Text von Fichte bislang nicht zu finden.

So habe ich mich schließlich entschlossen, die ganze WL nova methodo abzuschreiben und ins Internet zu stellen. Das hat viel Arbeit gemacht und eine ganze Weile gedauert. 

Meine Absicht ist, ein Arbeitsinstrument öffentlich verfügbar zu machen: einen lesbaren, weil teilweise kommentier- ten Text der nach meinem Urteil 'gültigsten' Fassung der Fichte'schen Transzendentalphilosophie. Im Internet wird er der Volltextsuche zugänglich. Ich warne jedoch davor, ihn in akademischen Zusammenhängen zu benutzen, und namentlich vor dem Kopieren von 'Stellen'. Ich habe durchgängig die Rechtschreibung modernisiert, die Interpunk- tion zur Verständlichkeit verändert und viele Absätze in Krauses Nachschrift eingefügt. Wenn Sie zitieren wollen, müssen Sie sich schon an die Gesamtausgabe oder an die Edition von Felix Meiner halten.

Mit dem Zitieren sollten Sie sich aber ohnehin zurückhalten. Fichte hat seinen Hörern stets abgeraten, seinen Vortrag mitzuschreiben: Das werde sie nur beim Verstehen behindern. Er empfahl, höchstens Stichpunkte zu notieren und zu Hause die Vorlesungen zu rekonstruieren, und zwar ein jeder mit seinen eigenen Worten, denn auf die Wortwahl komme es nicht an, sondern auf das, was gemeint ist, und das erschließe sich ja doch nur aus dem Sinnzusammen- hang. 

Krause hat also entweder Fichtes Rat nicht befolgt und hat mitgeschrieben; dann dürfte man nach Fichte nicht sicher sein, dass er alles recht verstanden hat. Oder er hat ihn befolgt, dann würden Sie Krauses Worte zitieren und nicht die von Fichte.

Freilich ist ein philologisches Herangehen an die Wissenschaftslehre sowieso verfehlt. Man kann nicht diese 'Stelle' gegen jene 'Stelle' abwägen, sondern immer nur ganze Gedankenstränge gegeneinander, doch wenn man die versteht, kommt es auf die Wörter nicht mehr an.


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Bedenken Sie bei der Lektüre bitte auch: Meine Kommentare sind zu ganz verschiedenen Zeitpunkten entstanden; sollte der eine jenem andern widersprechen, muss Sie das nicht überraschen, ich habe bei der Bearbeitung ja dazuge-lernt. Trotzdem kann es sein, dass frühere Kommentare klüger waren als spätere. Also lass' ich sie alle so stehen, wie ich sie ursprünglich eingetragen habe.  Na, alle doch nicht; zwei oder drei habe ich schon entfernt, da hatte ich ein-fach den Text nicht verstanden und habe trotzdem kommentiert; das lässt sich auch nicht ganz vermeiden, aber pein-lich ist es jedesmal.

Jochen Ebmeier



Text nach:
Joh. Gottl. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982




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Die WL erklärt nicht, wie das Bewusstsein entsteht, sondern entwirft einen Kanon der Vernünftigkeit.



Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissenschaftslehre entwirft nun einSchema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünftig heißen. 

Diese Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist gewissermaßen 'aufgefunden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'.

Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Bewusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es vernünftig wurde

In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was geschehen soll, nicht als histo-rischen Vorgng, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das System ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.

"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denkbares, als etwas Ideales."*


Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.

Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht als wirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ortund nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzen-dentalphilosophie.

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Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Menschen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.

*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.





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